Eltern über Nacht: 4 Tipps für werdende Adoptiveltern
Vor fünfeinhalb Jahren begann unser größtes Abenteuer. Vor fünfeinhalb Jahren sind wir eine Herzensfamilie geworden. Vor fünfeinhalb Jahren haben wir unser erstes Herzenskind adoptiert. Seit dem ist einige Zeit vergangen. Seit dem durften wir viel lernen – über uns und darüber, was es heißt, eine Adoptivfamilie zu sein. Rückblickend hätten wir uns tatsächlich mehr Wissen vorab gewünscht. Das, was uns damals mitgegeben wurde, war das Thema „Aufklärung“: „Seien Sie offen gegenüber Ihrem Kind. Beginnen Sie schon am Wickeltisch damit, Ihrem Kind von seiner Herkunft zu erzählen.“ Ja, das ist wichtig. Aber heute wissen wir, dass das nicht das Wichtigste ist.
In den letzten fünfeinhalb Jahren haben wir das eine oder andere Seminar besucht, Artikel gelesen und uns mit anderen Adoptivfamilien ausgetauscht. Wir haben eine pränatale Familienaufstellung gemacht, die uns, auch wenn ich vorher sehr skeptisch war, wirklich geholfen hat, unsere beiden Herzenskinder und das, was sie im Bauch erfahren haben, besser zu verstehen. Nachfolgend möchte ich allen werdenden Adoptiveltern gerne ein paar meiner Erkenntnisse weitergeben – vielleicht helfen sie euch auch. 😊
1. Liebt euer Herzenskind „bedingungslos“
Jedes Herzenskind ist anders, jede Herzensfamilie ist anders. Wenn ihr eurem Herzenskind das erste Mal begegnet, werdet ihr spüren, ob ihr gemeinsam eine Familie werden könnt. Spürt ihr das bei den ersten Kontakten nicht, dann gesteht euch das bitte ein – das ist keine Schande. Mit Vernunft kann man keine liebende Familie gründen. Und bedingungslose Liebe ist das wichtigste Fundament für eure Beziehung zu einander. Liebe ist etwas, was man nicht erzwingen kann. Liebe ist etwas, was passiert. Und wenn es nicht „funkt“, dann ist es nicht euer Weg. Wir haben uns vorher viele Gedanken gemacht, wie es sein wird, unser Kind in Händen zu halten. Wir hatten Angst davor, es vielleicht nicht lieben zu können. Wir haben uns auch die Frage gestellt: Wie kann man eine liebende Bindung von jetzt auf gleich aufbauen? Doch: Macht euch darüber keine Gedanken. Denn Liebe geschieht. Einfach so. Wir haben unsere mittlerweile zwei Herzenskinder gesehen und dann war es um uns geschehen. Es war sofort ein tiefes Gefühl da. Eine tiefe Verbundenheit, die man mit Worten nicht beschreiben kann.
Wenn ihr euch von Herzen für euren gemeinsamen Weg entschieden habt, dann lasst euch auf das kleine Wesen ein. Ohne Wenn und Aber. Adoptivkinder sind anders. Sie haben gleich zu Beginn ihres Lebens eine fundamental traumatische Erfahrung gemacht – sie wurden, ohne dass sie gefragt wurden, weggegeben. Sie erlebten ein „Nicht-Gewollt-Sein“ - oftmals bereits im Mutterleib. Das verankert sich (unbewusst) tief im Nervensystem der Kinder. Und prägt ihr ganzes Leben. Das zeigt sich bei jedem Kind anders und kann sehr herausfordernd sein. Aus diesem Grund ist es so unendlich wichtig, dass ihr euer Herzenskind mit all seinen Facetten bedingungslos annehmen und lieben könnt. Es braucht das Gefühl, euch vertrauen zu können. Es muss spüren, dass es geliebt wird – und zwar genau so, wie es ist.
2. Gebt eurem Herzenskind viel Nähe, Körperkontakt und Aufmerksamkeit
Ich habe oft zu hören bekommen: „Du trägst deine Kinder zu viel. Du gibst ihnen zu viel Aufmerksamkeit.“ Heute weiß ich: Nein. Es gibt nicht zu viel Nähe und zu viel Zuneigung – gerade für Adoptivkinder. Adoptivkinder erleben bereits im Mutterleib, dass sie nicht gewollt sind: Die Angst der leiblichen Mutter, nicht zu wissen, was der richtige Weg ist. Das oftmalige Verdrängen und Verheimlichen der Schwangerschaft. All das prägt das ungeborene Kind. Das Gefühl des Ungewolltseins verankert sich im Nervensystem. Die erste Bindung, die im Mutterleib zwischen dem ungeborenen Kind und der leiblichen Mutter über meist neun Monate entstanden ist, geht kurz nach der Geburt verloren. Von jetzt auf gleich. Die bekannte Stimme. Das vertraute Gefühl. All das reißt plötzlich ab, ohne dass das kleine Wesen es möchte, es mitentscheiden kann. Das hinterlässt Spuren. Spuren, die ein Kind sein Leben lang prägen - und die sich ganz unterschiedlich äußern können. Und dann ist da plötzlich etwas Neues. Jemand Neues. Eine andere Stimme. Unbekannt. Ungewohnt. Es braucht Zeit, um eine neue Bindung aufzubauen. Und es braucht vor allem viel Nähe. Viel Zuneigung. Bei unseren beiden Herzenskindern war das absolut identisch: Sie haben beide nach ein paar Wochen bei uns laut stark kundgetan, was sie brauchten. Sie wollten nicht im Kinderwagen etc. liegen. Sie wollten ganz nah bei uns sein. Und so haben wir sie ganz eng mit einem Tragetuch bei uns sein lassen. Das lauschen unseres Herzschlags. Die Wärme. Die Nähe. Das tat ihnen gut.
Wichtig ist, dass ihr euch Zeit gebt. Zeit, um euch gut kennenzulernen. So solltet ihr auch das Füttern nicht so schnell in "fremde Hände" geben. Auch wenn Oma, Opa, Schwester oder Tante das gerne tun möchten. Tut es selbst. Euer Kind braucht eine feste Bezugsperson. Vertrauen baut sich nicht über Nacht auf. Auch gibt es immer wieder gut gemeinte und meist nicht erfragte Tipps in Sachen "Kindererziehung". Zum Beispiel, dass man Kinder mal schreien lassen und nicht unmittelbar reagieren sollte. Tut das bitte nicht. Euer Herzenskind braucht die Sicherheit, die Gewissheit, dass ihr ab sofort für es da seid. Bedingungslos. Deshalb hört nicht auf andere, sondern auf die Bedürfnisse eures Kindes und euer Bauchgefühl.
3. Adoptivkinder sind „anders“ – sie sind Überlebenskämpfer
Das früherlebte Trauma des Verlassenwerdens. Der Kontrollverlust. Diese pränatale Prägung, das habe ich erst verstehen müssen, sitzt tief und kann sich unterschiedlich äußern. Unsere beiden Herzenskinder haben zum Beispiel starke Verlustängste. Aber das auch ganz unterschiedlich ausgeprägt. Bei unserem jüngsten Herzenskind hat sich dies das erste Mal so richtig an seinem dritten Geburtstag gezeigt: Durch einen Windzug hatte sich ein mit Gas gefüllter Luftballon gelöst und ist gen Himmel geflogen. Unser Herzenskind hat geschrien und geweint. Wir haben lange gebraucht, um es beruhigen zu können. Ich wusste zunächst nicht, was los war. Es war doch nur ein Luftballon. Aber bereits da zeigten sich seine starken Verlustängste. Etwas zu verlieren, was es behalten möchte. Es nicht unter Kontrolle zu haben. Als ich wusste, woher das kommt, was es bedeutet, konnten wir besser agieren. Ich habe auch gleich zu Beginn unsere Erzieher*innen im Kindergarten informiert. Damit auch sie verstehen und einfühlsam reagieren können.
Wir haben unsere Kinder früh darüber aufgeklärt, dass sie adoptiert sind. Das Thema ist Teil unseres Alltags. Doch wir haben auch gemerkt – bei aller Wickeltischaufklärung: Jedes Kind braucht ein anderes Tempo. Unser großes Herzenskind analysiert das ganze Thema immer sehr pragmatisch: "Ich bin bei meiner Bauchmama im Bauch gewachsen, dann habe ich mich herausgebohrt und bin dann zu euch gekommen." So schildert es seine Herkunft immer. :-) Doch unser kleines Herzenskind wird oftmals sehr still, wenn wir darüber sprechen. Zum Beispiel, wenn wir am Krankenhaus vorbeikommen, in dem es zur Welt gekommen ist. Zunächst dachte ich immer, es versteht es nicht oder interessiert es nicht. Doch ich weiß jetzt: Es hat Angst. Angst, auch uns wieder zu verlieren. Deshalb gehen wir hier nun behutsamer mit seiner Herkunftsgeschichte um.
Mir hat eine pränatale Familienaufstellung sowie der Kontakt zu einer Traumapädagogin sehr geholfen, um besser verstehen zu können, was meine zwei erlebt haben.
4. Mit festen Rituale schafft ihr Struktur und Sicherheit im Alltag
Feste Rituale schaffen Struktur im Alltag und geben Sicherheit. Etwas, was gerade Adoptivkinder besonders brauchen. Ein festes Ritual ist es bei uns zum Beispiel, dass wir gemeinsam vor dem Einschlafen kuscheln und Geschichten lesen. Wir kommen zusammen zur Ruhe. Manchmal möchten meine zwei Herzenskinder, dann auch noch über das Erlebte am Tag sprechen. Manchmal wird nur intensiv gekuschelt. Dann darf sich jeder noch eine Gute-Nacht-Geschichte aussuchen. Das machen wir jeden Abend gleich. Sonntags ist Papa-Tag, da bringt er die beiden mit einem festen Ritual ins Bett. Das ist nur ein Beispiel. Jede Familie sollte hier ihre eigenen Rituale finden und im Alltag integrieren. Und Rituale können sich auch ändern. Denn auch die Bedürfnisse der Kinder ändern sich. Und wenn eure Herzenskinder jeden Tag das gleiche frühstücken oder die gleiche Geschichte hören möchten, dann gibt ihnen auch das Sicherheit.
Der Familienalltag mit einem Adoptivkind kann sehr herausfordernd sein. Deshalb hört auf euer Bauchgefühl. Spürt nach, was euer Kind braucht, welche Bedürfnisse es hat. Und vergesst dabei euch selbst nicht. Selbstfürsorge ist sehr wichtig. Nehmt euch als Herzenspapa bzw. Herzensmama auch mal Zeit nur für euch selbst. Zum Kraft tanken. :-)

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