Der erste Moment als wir dich sahen und die Angst vor dem „Nicht-Lieben-Können“

 


Kann man ein Adoptivkind genauso lieben wie sein leibliches Kind? Diese Frage begegnet mir öfter. Manche Menschen können sich das nicht vorstellen und entscheiden sich deshalb bewusst gegen eine Adoption. Doch Liebe hat nichts mit Genetik zu tun.
 

Als wir den besagten Anruf der Adoptionsvermittlungsstelle erhielten, stand unser Leben Kopf. Die Freude war riesig. Doch dann fiel uns ein, dass wir noch jede Menge zu tun hatten. Denn wir hatten ja nicht damit gerechnet, dass der Anruf jemals kommen würde. Wir brauchten noch so viel: Kinderbett, Autositz, Babykleidung, Windeln, Flaschen und und und. Auch hatten wir bis zu diesem Moment noch niemanden von unserer Bewerbung erzählt. Warum nicht? Nun, wir dachten nicht, dass es klappen würde. Wir wollten nicht ständig gefragt werden: "Und, habt ihr schon einen Anruf bekommen?" Auch das mussten wir noch alles nachholen. Doch Priorität hatte erst einmal das kleine Wesen. Leider konnten wir erst am nächsten Morgen ins Krankenhaus. Und so gingen wir voller Aufregung ins Bett.

Die Nacht vor der ersten Begegnung 

An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken. Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf. Es war irgendwie alles surreal. Neben der Freude kamen dann aber auch plötzlich Ängste hoch: Wie wird die erste Begegnung sein? Was ist, wenn wir nichts spüren, wenn wir das Kleine im Arm halten? Und: Bekommen wir das wirklich hin? Sind wir „genug“ für das kleine Wesen? Können wir eine tiefe Bindung zueinander aufbauen? So viele Fragen schwirrten um mich herum. Mein Mann war tiefenentspannt. Er meinte nur: „Lass alles einfach auf uns zukommen!“.  Doch so „gelassen“ konnte ich nicht sein, hatte ich doch schon von Situationen gehört, in denen die vorgesehenen Adoptiveltern das Adoptivkind nicht annehmen konnten. Eine schwierige emotionale Situation, wünscht sich doch jedes Bewerberpaar ein Baby. Mir war klar, dass auch so etwas passieren könnte. Schließlich werden wir meist über Nacht Eltern – ohne Vorwarnung, ohne Vorbereitung. Ich dachte mir nur: Was ist, wenn ich das Baby nicht von Anfang an lieben kann? Mein Mann meinte, dass wir uns das dann auch eingestehen müssten. Ganz ehrlich. Ganz offen. Denn es bringt nichts, eine Adoption auf Biegen und Brechen durchzuziehen, wenn unser Gefühl, unser Herz etwas anderes sagt. Das wäre vor allem dem Kind gegenüber nicht fair. Es braucht doch viel mehr als jedes andere Kind bedingungslose Liebe und Zuneigung. Hat es doch nach der Geburt bereits den ersten Bindungsabbruch erlebt.

Als wir unser Herzenskind das erste Mal sahen

Meine Gefühle fuhren auch am nächsten Morgen weiter Achterbahn: Mir war schlecht vor Aufregung, mein Herz raste vor Freude. Ich war nervös. Die Fahrt ins Krankenhaus dauerte gefühlt eine Ewigkeit. Dann waren wir dort. Wir meldeten uns an. Wir hatten noch einige Bestätigungen von der Adoptionsvermittlungsstelle dabei, da diese coronabedingt nicht bei der ersten Begegnung dabei sein durfte. Diese legten wir vor. Dann hieß es erst einmal warten im Eingangsbereich des Krankenhauses. Wir warteten. Hand in Hand. Bei aller Gelassenheit stieg auch bei meinem Mann die Nervosität. Seine Hände wurden schwitzig. Nach 20 Minuten kam eine Frau auf uns zu. Sie begrüßte uns: „Sie sind Familie Ritter. Dann bringe ich Sie mal zu ihrem Kind.“ Jetzt war es also so weit. Wir kamen unserem Kind Schritt für Schritt näher. Die Frau war vom Sozialdienst des Krankenhauses und brachte uns auf eine normale Kinderstation, denn das kleine Wunder kam ganz gesund zur Welt und wurde deshalb dorthin verlegt. Ich weiß es noch wie heute: Als wir aus dem Aufzug stiegen und den Flur entlang liefen, waren alle Kinderkrankenschwestern, die Dienst hatten, auf dem Flur und beobachteten uns genau. „Wir wollten genau wissen, wer da kommt, und ob das Kleine in ein liebevolles zuhause kommt“, erzählte mir Schwester Lara ein paar Tage später. Im Nachgang finde ich das sehr schön, aber in der Situation selbst war es für uns etwas unangenehm. 😊 Dann ging die Tür des Zimmers auf. Ein kleines Babybett stand im Raum. Mein Herz schlug immer schneller. Vorsichtig näherten wir uns. Und da sah ich unser Herzenskind. Das erste Mal.

Liebe kennt keine Genetik

All die Gedanken und Ängste, die mir vorab durch den Kopf gegangen sind, waren wie weggeblasen. Auch wenn Babys noch nicht gezielt lächeln können, hatte ich das Gefühl, dass mich das kleine Wesen anlächelte. In diesem Moment spürte ich: Das ist unser Herzenskind. Das ist unser Kind, auf das wir so lange gewartet haben. Ich spürte bereits in diesen Sekunden bedingungslose Liebe. Dieses Gefühl lässt sich mit Worten nicht beschreiben. Ich fragte, ob ich unser kleines Herzenskind auf den Arm nehmen darf – schauten mich doch immer noch zahlreiche Augenpaare an. „Ja, natürlich!“ Und so hob ich unser Kleines das erste Mal hoch, legte es in meinen Arm und streichelte ihm zärtlich über die Wange. Es war um mich geschehen. Alles, was mich vorher, verwirrt hatte, war weg. Es war plötzlich alles klar. Ab der ersten Sekunde hatten wir keine Zweifel, keine Bedenken mehr. Das war und ist UNSER Herzenskind. Mein Mann, der ja bereits zwei leibliche Kinder hat, sagte mir einige Zeit später, dass auch er nicht wusste, ob die Liebe zu unserem Herzenskind die selbe Liebe sein würde, wie zu seinen leiblichen Kindern. Doch er meinte, dass es unglaublich ist: Er liebt unsere nun ja schon zwei Herzenskinder genauso bedingungslos wie seine zwei leiblichen Kinder. 

Ich kann nur jedem Bewerberpaar raten: Schiebt eure Sorgen, eure Ängste zur Seite und lasst den Moment einfach geschehen.  Liebe ist ein so mächtiges Gefühl – so grenzenlos, so bedingungslos. Wir sind der Beweis dafür: Liebe hat nichts mit Genetik zu tun.


Die ganze Folge gibt es auch als Podcast hier.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Wie sage ich meinem Kind, dass es adoptiert ist?

Wie wir eine Herzensfamilie wurden? Unser Weg zum Herzenskind durch Adoption